Fassungen
‘St. Anselmi Fragen an Maria’ liegt in einer Vers- und einer Prosabearbeitung vor, die sich je von der formalen und auch inhaltlichen Ausgestaltung so deutlich voneinander unterscheiden, dass hier wohl von zwei Textversionen gesprochen werden kann (die Terminologie wird seit langem in der Textphilologie debattiert und mit Blick auf die spezielle Form spätmittelalterlicher geistlicher Literatur wird hier noch eine Diskussion erfolgen müssen). Die weit häufigere Prosaversion (46 Texte) lässt sich weiter in unterschiedliche Fassungen differenzieren, die schließlich Redaktionen zeigen. Die Versversion (15 Texte) erscheint auf den ersten Blick homogener und formbedingt dichter beieinander zu liegen, allerdings zeigt sich auch hier eine enorme Varianz, sodass gegenwärtig eine Handschriftenfassung und eine Druckfassung mit je zwei Redaktionen anzunehmen sind.
Bislang konnten alle Texte (mit Ausnahme von sechs Textzeugen) weitgehend zuverlässig zugeordnet werden:
- Vers
- 11 Handschriften
- 9 Drucke
- Prosa
- 26 Textzeugen bieten eine lange Textfassung,
- 12 Textzeugen bieten eine kurze Textfassung,
- 5 Textzeugen bieten eine eigenständige Textfassung mittlerer Länge,
- 4 Textzeugen bieten eine eigenständige mittelniederländische Textfassung,
- 1 Textzeugen bietet eine eigenständige mittelenglische Textfassung.
Den formalen Unterschieden (Prosa vs. Vers, Textlänge) entsprechen Unterschiede auf der inhaltlichen Ebene. Verstexte fokussieren beispielsweise Motive und Emotionen des Anselmus, die Prosatexte sind stärker auf die Person Marias bezogen: ihre Leiden und Gefühlsregungen finden Niederschlag in den häufig vorkommenden Marienklagen. Die Prosatexte zeigen narratologisch eine enge Verflechtung der Leiden Jesu mit den Leiden Marias über den erzählstrategisch eingesetzten Topos des Simeonschwertes (die sieben Schmerzen Marias beschließen jeweils die einzelnen Phasen des Passionsgeschehens). Zudem verfügt die Prosafassung über mehr Episoden, neigt stärker zu Interpolationen und bietet mehr äußere Fakten (wie z.B. Orts- und Personennamen, Datums- und Maßangaben) sowie historische Bezüge und Bibelhinweise bzw. Bibelzitate. Der Umfang der langen Prosatexte wird im Wesentlichen durch die eingefügten Marienklagen mitbestimmt. Die kurzen Prosatexte zeigen einen deutlichen Verlust an mariologischem Gehalt.
Die Versbearbeitungen hingegen zeigen ganz eigene Ergänzungen, Erweiterungen und Änderungen. So weist die Versfassung beispielsweise eine markante Eigenleistung auf, die einmal mehr die Annahme einer recht eigenständigen Textgenese stützt: Am Schluss des Dialogs wendet sich Maria an Anselmus, verabschiedet sich von ihm und setzt den Titel des Textes ein.
Diese auffälligen Differenzen spiegeln unterschiedliche Literarisierungsprozesse wider und legen die Annahme einer eigenständigen Textgenese zumindest der Prosa- und der Versfassung nahe. Den Redaktionen liegen daher möglicherweise durch kulturelle und religiöse Hintergründe bedingte unterschiedliche Stufen und damit Formen von Literarisierung zugrunde.