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Seit dem Hochmittelalter werden das unglaubliche Leiden und der unermessliche Schmerz der Gottesmutter Maria über die Marter und die Leiden Jesu literarisch dahingehend verarbeitet, dass die Figur Marias letztlich im Fokus steht. So findet die Ausformung ihres Leidens als Mutter in Marienklagen, Passionstraktaten, Marienleben und Passionsspielen ihren literarischen Raum. Diese Zentralstellung bleibt nicht unkritisiert, und im Zuge der Reformation wird die Marienverehrung und damit die Tradierung entsprechender Texte weitgehend aufgegeben.

Aus der Fülle der die Passion beschreibenden Texte aus der Reformzeit bzw. der vorreformatorischen Zeit sticht ‘St. Anselmi Fragen an Maria’ deshalb besonders hervor, da die Zentralstellung Marias und die außerordentliche Betonung ihres Leidens geradezu zu regulieren versucht wird: Dem inbrünstig bittenden und betenden Anselm von Canterbury erscheint schließlich die Gottesmutter Maria, und durch das gezielte Fragenstellen ist er es, der den Blick auf das Passionsgeschehen lenkt. Anselm befragt Maria zu den Geschehnissen der Passion ihres Sohnes und vertraut ihrer Augenzeugenschaft. Die Darstellung beginnt mit dem letzten Abendmahl und dem Verrat des Judas und endet – je nach Fassung – mit der Auferstehung Jesu und seiner Erscheinung bei Maria oder der Rache durch Titus und Vespasian 40 Jahre später.